Fotos (v.o.n.u.): © B. Gebauer; S. Hofschlaeger, Torsten Schröder, S. Hofschlaeger, Paul Marx, Claudia Hautumm, Detlev Beutler, Stefan Claus,Albrecht E. Arnold, Rainer Sturm, Karl Strebl, Torsten Schröder, knipseline, magicpen / www.pixelio.de
Fallbeispiele
Thomas, 7. Klasse
Thomas war 13-jährig, aus wohlhabendem Elternhaus, die Eltern Akademiker. Nach 2 älteren Schwestern kam er als jüngstes Kind auf die Welt. Er war also so etwas wie ein männliches Nesthäkchen und hatte sich darauf verlegt, die Aufmerksamkeit nicht durch glänzende Leistungen auf sich zu ziehen, sondern indem er alle Raffinesse darauf verwendete, bei seinen Bezugspersonen enorme Aufregung hervorzurufen. So versuchte er z.B., mich mit den abwegigsten Gedankenfetzen zu bombardieren, als ob er mir beweisen wollte, dass es für ihn keinen anderen Weg gab, als mir mit möglichst ausgefallenen Ideen vorzuführen, wie er einerseits von unserem Vorhaben ablenken konnte, die gerade ins Auge gefasste Aufgabe zu lösen, und andererseits, auf welch vielseitige Weise er in der Lage war, falsche Wege beim Rechnen einzuschlagen. Auf beeindruckende Weise hatte er sich eine sehr ausgefeilte Strategie zugelegt, mich damit ebenso hinters Licht zu führen, wie es ihm offenbar schon mit vielen anderen Personen gelungen war. Eine Lernstrategie, die ihn zum Erfolg gebracht hätte, wäre gewesen, den Fragen nachzugehen, die seine Missverständnisse beim Lernen des Schulstoffes hätten aufklären können. Das Erlebnis jedoch, die Personen, mit denen er es zu tun hatte, in beachtliche Aufregung zu bringen, muss ihn so fasziniert haben, dass er daran hängen geblieben ist, zumal er damit in einem Alter begonnen haben muss, als er sich nicht im Klaren darüber war, was er tat. Da seine Bezugspersonen diese Strategie ebenso wenig durchschaut haben wie er selber, machte er stattdessen die Erfahrung, dass er auf diese Weise eine ungleich stärkere Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, als wenn er „einfach nur“ ein guter Schüler geworden wäre. Darüber hinaus erlebte er auch noch, dass er fortan Unterstützung in allen Lernfächern bekam. Da hat er sich ein wunderschönes Nest gebaut – natürlich nicht absichtlich, so etwas entsteht nicht bewusst. Davon konnte er sich nicht leicht verabschieden, weil es ihm einerseits nicht so ohne weiteres bewusst wurde, was er da tat, und andererseits, weil er ein Stück weit die Erfahrung gemacht hatte, dass er von allen Seiten gut bedient wird, wenn er beim Lernen nicht weiterkommt – sein Umfeld ist ihm quasi auf den Leim gegangen.
Thomas war mehrfach mit Hilfe psychologischer Testdiagnostik untersucht worden, die ihm eine psychische Schwäche bescheinigte, was die Aufnahmefähigkeit betrifft. Außerdem hieß es, er könne nicht abstrahieren. Eine Lösung war ihm nicht in Aussicht gestellt worden. So schien ihm aus seiner Sicht keine andere Wahl zu bleiben, als sein niedriges Lernlevel aufrecht zu erhalten, denn so konnte er sich immerhin der Zuwendung sicher sein, die ihm mit dieser Strategie jahrelang zugekommen war.
Zu durchbrechen war dieses Muster einerseits dadurch, dass es endlich einmal erkannt wurde, und zum anderen dadurch, dass Thomas sich selbstverständlich wie alle Kinder zutiefst danach sehnte, auch endlich den „Dreh“ herauszufinden, wie er den Schulstoff aus eigener Kraft bewältigen könnte. Glücklicherweise hatte er keine ausgeprägte Rechenschwäche, sondern konnte im Gegenteil recht gut kopfrechnen und kannte im Gegensatz zu manchen Altersgenossen, die fast nur noch mit dem Rechner rechnen können, auch das kleine 1×1 recht gut. Neue Rechenwege, die ich ihm zeigte, übernahm er phasenweise sofort und wendete sie auch gleich an. Das zeigte mir, dass er sehr wohl in der Lage war, auch schnell etwas Neues zu lernen. Aber diese Fähigkeiten wollte er immer wieder vergraben und glänzte stattdessen viel lieber von neuem mit den abwegigsten Gedankenfetzen, die er so raffiniert zum Besten gab, dass es so aussah, als meinte er es ernst damit. Mit außergewöhnlicher Raffinesse versuchte er, mir mit seinen Gedankenfetzen bei den Rechenaufgaben bizarre Lösungswege vorzuführen, die er sich in vielen Situationen blitzartig ausphantasiert hatte, als ob er mir immer noch beweisen wollte, dass er ganz sicher die falschen Wege einschlägt. Diese Strategie war bei ihm so sehr verankert, dass ihm selber nicht mehr auffiel, dass seine Lösungsvorschläge beim Rechnen frei erfunden waren und dass er im Begriff war, sich in dieser Strategie geradezu eine Virtuosität anzueignen. Irgendwann muss er auf einer Ebene angekommen sein, wo er nicht mehr unterscheiden konnte, ob er jetzt etwas erfand, weil er die Lösung wirklich nicht wusste, oder ob er es genoss, dass die Leute, mit denen er dieses Spiel trieb, darauf hereinfielen. Auch mit mir hat er dieses Spiel immer wieder von neuem versucht und wollte damit meine Aufmerksamkeit auf sein altes Gleis lenken, d. h. mich ebenfalls hinters Licht führen. Dass er sich dabei selber ein Bein nach dem anderen stellte, fiel ihm mehr und mehr auf, da ich ihn immer wieder mit sehr viel Geduld darauf aufmerksam machte. Einerseits gefiel ihm das gar nicht, aber da er spürte, dass ich ihn da richtig erfasst hatte, ließ er sich darauf ein – und siehe da, das allein genügte schon, dass er bald bessere Leistungen zeigte. Vor allem half ihm, dass ich seine Aufmerksamkeit immer wieder darauf lenkte, dass er gut rechnen konnte.
Geheuer war es ihm trotzdem nicht, und so war er weiter häufig unkonzentriert. Zunächst ließ er sich nur phasenweise dafür gewinnen, seine gewohnte Haltung abzulegen. Vor allem stand seine Meinung, die er sich im Laufe der langen Zeit vorher von sich selbst gebildet hatte, noch immer stark im Vordergrund: „Ich bin eben nicht intelligent genug, nicht begabt genug, und deshalb kann ich es nicht, was wir in der Schule drannehmen.“ So stand er bei neuem Lernstoff, der in der Schule drankam, jeweils wie vor einer Wand, die er nicht durchdringen konnte. Das immer wieder erneute schrittweise Heranführen an die einfachen Rechenvorgänge, die den Aufgaben zugrunde lagen, zeigten ihm jedoch, dass es keine Zauberei ist, die Mathematik zu verstehen und dass auch er somit mehr und mehr in die Lage versetzt wurde, den Stoff zu bewältigen.
Benjamin, 8. Klasse
Benjamin zeigte schlechte Leistungen in Mathematik, jedoch brillante Leistungen in einem anderen Fach. Er behauptete: „In Biologie lerne ich überhaupt nicht, und da schreibe ich lauter Einser und Zweier!“ Und glaubte, das sei so, weil er für dieses andere Fach eben „begabt“ sei, und für Mathe sei er eben nicht begabt!
Er staunte nicht schlecht, als ich ihm erklärte, dass er sich mit dem anderen Fach, in dem er immer so gute Noten nach Hause brachte, oft viele Stunden pro Woche beschäftigte: Er las seitenlange Abschnitte dazu im Schulbuch – wenn dies nicht als Hausaufgabe aufgegeben war, zählte das in seinen Augen nicht als Lernen – las Abhandlungen über das Fach in anderen einschlägigen Büchern, schaute sich Sendungen dazu im Fernsehen an oder entdeckte Artikel dazu in der Zeitung, die er mit Begeisterung las, suchte sonst wo, z.B. im Internet, nach Informationen usw. Bei all dem aber behauptete er, er lerne nichts für dieses Fach!
Hinzu kam noch, dass sein Vater Hobby-Biologe war und deshalb entsprechend umfassende Kenntnisse in diesem Fach hatte. Hier zeigte sich also, dass der Sohn einerseits wie alle Kinder die Anerkennung der Eltern brauchte und suchte, in diesem Fall besonders die Anerkennung des Vaters, andererseits aber auch, dass er dem Vater nacheifern wollte, da er sich mit ihm identifizierte.
Bei der weiteren Betreuung dieses Jungen ging es darum, seine Motivation, sich auch mit dem Fach Mathematik mehr als bisher zu beschäftigen, zunächst einmal wenigstens zu steigern. Gleich Begeisterung für dieses ungeliebte Fach bei ihm zu wecken, wäre zumindest am Anfang noch etwas hoch gegriffen. Aber über seine wenigstens phasenweise schnellen Fortschritte war er begeistert, wenn vorläufig auch das neu Gelernte durch seine innere Unruhe schnell wieder ins Dunkel der Vergessenheit zurückfiel. Immer wieder bestand er darauf, dass ich doch seine Hyperaktivität beachten sollte, als ob er sagen wollte: „Schauen Sie doch, wie behindert ich bin, wie soll ich damit Mathe lernen!?“
Mit der Zeit konnte ich ihn jedoch dafür gewinnen, sich weitere Kenntnisse in Mathematik anzueignen, dass er bald selber nicht mehr merkte, wie vertieft und konzentriert er plötzlich mit dem Rechnen beschäftigt war. So war also seine kurz vorher noch reklamierte Hyperaktivität plötzlich verschwunden. Auch das geschah zunächst nur phasenweise, bis ihm sein Zweifel daran wieder einfiel und er dann wieder seine Unruhe wild artikulierte, als ob er beweisen wollte, dass er noch nicht vergessen hatte, wie er sie heraufbeschwören kann. Da ich aber wusste, dass dies nur ein Übergangsstadium innerhalb einer Entwicklung ist, und ihm ganz selbstverständlich weiterhin vermittelte, dass ihm seine Matheaufgaben umso leichter fallen, je routinierter er dabei wird, führten unsere gemeinsamen Bemühungen dazu, dass sich seine Erfolge festigten und sich seine Freude daran steigerte.
Schlussbetrachtung
Aufgrund der unterschiedlichen Vorgeschichten kann auch aus vielen Beispielen kein Rezept für den Umgang mit diesen Kindern abgeleitet werden. In einem Punkt jedoch stimmen viele Kinder (oder Erwachsene), die sich mit Lernschwierigkeiten konfrontiert sehen, überein:
Das ist die Ebene in ihrem Gefühl, auf der viele zu irgendeinem Zeitpunkt angekommen sind, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen durch die unterschiedlichen Vorgeschichten. Aufgrund dieser Erfahrungen ziehen sie häufig Schlüsse wie z.B.:
- Ich bin zu blöd für Mathe (oder irgendein anderes Fach)
- Wenn ich zu blöd bin für … , bin ich wohl überhaupt zu blöd für die Schule
- Schule ist blöd
- Die Lehrerin / der Lehrer ist blöd
- Üben bringt nichts
- Warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe, ich kapier’s sowieso nicht!
Wenn ein Kind an diesem Punkt angekommen ist, liegt es auf der Hand, was es zunächst am meisten braucht: Jemand, der weiß, dass diese Haltung eine vom Kind sich selbst subjektiv zugeschriebene Interpretation ist, die mit der objektiven Realität nicht übereinstimmt. Diese Erkenntnis hat jedoch gerade dort, wo sie gebraucht wird, oft noch zu wenig Eingang gefunden. Zu großen Teilen ist das auf unsere kulturelle Tradition zurückzuführen (s. Historisches zum Bildungsbegriff).
Wenn wir einem Kind aus der Spirale der Unzulänglichkeitsgefühle heraushelfen wollen, ist also die Überzeugung, mit der wir an die Sache herangehen, der Dreh- und Angelpunkt. Alle noch so Erfolg versprechenden Maßnahmen bleiben Kosmetik und müssen früher oder später ins Leere laufen, wenn jemand im tiefsten Innern davon überzeugt ist: Dieses oder jenes Kind kann es ja doch nicht. Leider kommt es nicht selten sogar vor, dass jemand gar nicht wahrnimmt, dass er/sie diese Überzeugung hat – und wundert sich, dass alles nichts hilft oder nicht viel hilft, was mit dem Kind getan wird.
Besonders die Überzeugung der Eltern spielt dabei eine sehr große Rolle. Wenn ein Therapeut genau das Richtige tut, um dem Kind zu helfen, werden die Maßnahmen nur in dem Maße greifen, in dem auch die Eltern dahinter stehen. Wenn die Eltern oder auch nur ein Elternteil glaubt, „mein Kind kann ja doch nicht rechnen“ (oder was immer es ist) – auch wenn dies nicht bewusst wahrgenommen wird – kann diese Überzeugung dazu führen, dass der Erfolg der Therapie gemindert oder verlangsamt wird. Im schlimmsten Fall kann sie dadurch sogar ganz scheitern.
Das Kind muss also als erstes Hoffnung schöpfen können, dass mit ihm nicht „Hopfen und Malz verloren“ sind, sondern dass es Fortschritte beim Lernen machen kann wie alle anderen auch. Ganz gleich, welche Art von Maßnahmen vorgesehen sind, um dem Kind zu helfen – diese Überzeugung muss allen folgenden Aktivitäten zugrunde liegen und sie begleiten.